Bilde ich mir das nur ein ... - Teil 2
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in dieser Welt total falsch bin.

Es gibt Tage, da ist mir das vollkommen wurscht, wenn im abendlichen Berufsverkehr Autofahrer bei dunkelorange noch auf die Kreuzung fahren, wodurch das ohnehin schon perfekte Chaos noch vergrößert wird. Gleichzeitig werden die wenigen, die erst fahren, wenn die Kreuzung frei ist - auch wenn die Ampel gerade auf Grün steht - von hinten angehupt.

Manchmal frage ich mich aber, ob diese Menschen nicht mehr wissen, was sie in der Fahrschule verlernt haben? Oder ob das nur ein Ausdruck der allgegenwärtigen Dummheit und Ignoranz ist. Vorausschauendes Handeln? Kennen wir nicht ...

Noch ein schönes Beispiel:
Programmkino in Koblenz, bei dem eher weniger besuchte "Außenseiterfilme" gezeigt werden. Entsprechend leer ist das Kino. Auf den Eintrittskarten sind jedoch standardmäßig Platz- und Reihennummer vermerkt.
Meine herzallerliebste C. und ich schauen da gar nicht nach. Wir setzen uns irgendwohin und wenn jemand meint, er muss auf diesen Platz bestehen, dann räumen wir das Feld. Immer wieder schön zu beobachten sind dann die Leute, die sich nur auf die ihnen zugewiesenen Plätzen setzen können. Selbst, wenn ein anderer Platz viel schöner ist. Wenn das auf dem Zettel steht, dann muss man sich daran halten.

Was ist das? War das schon immer so oder bilde ich mir das nur ein, dass den Menschen das Denken immer mehr abhanden kommt?

Kann es sein, dass diese mittlerweile überwiegend im Fernsehen gezeigten Superschwachsinns-Sendungen so langsam die ersten Schäden hinterlassen?

Ich kann meine Kinder nicht erziehen - Ich komm ins Fernsehen. Ich kann meine Schulden nicht bezahlen - Ich komm ins Fernsehen. Ich will einen Millionär heiraten - Ich komm ins Fernsehen. Ich find keine Frau - Ich komm ins Fernsehen. Ich werd mein erwachsenes Kind nicht los - Ich komm ins Fernsehen. Ich bin zu dick - Ich komm ins Fernsehen. Ich kann meinen Hund nicht erziehen - Ich komm ins Fernsehen. Ich will heiraten und eine Traumreise gewinnen - Ich komm ins Fernsehen. Verklag mich doch!

Hallo? Alles klar da draußen?

Heute bin ich mal wieder eindeutig zu dünnhäutig. Scheiß. Macht mir alles zu viel aus.


cassandra_mmviii am 30.Nov 14  |  Permalink
"Erlernte Hilflosigkeit"
nennt man das in der Fachsprache. Nicht mit den kleinen Widrigkeitn des Alltags zurechtkommen, sondern darin verharren und warten, dass jemand kommt und das Problem löst.

Letztens fiel vor dem Spielzeugladen mein Fahrrad um. Dummerweise hatte ich vorher schon eingekauft, also sammelte ich mein Gemüse vom Gehweg. Doof, aber passiert. Ich grummelte, aber sammelte.
Dann kamen die Damen Besitzerinnen der beiden Fahrräder im Partner-Look, die auch im Ständer standen, den ich mit meinem umgefallenen Rad nun blockierte. Mutter und Tochter, erkenntlich an den gleichen Fönfrisuren und dem gleichen blasierten Gesichtsausdruck dazu. Das ich dabei war, das Ärgernis zu beseitigen, war offensichtlich. das ich das nicht angestellt hatte, um sie zu ärgern, war Interpretationssache, aber erst mal auch nicht zu weit hergeholt. Die beiden standen da, Tochter erstarrt. Das Mädel war 13, 14 oder so was. Dann sagte sie "Mama, ich komme nicht an mein Fahrrad!" in einem Ton, als habe ich ihr grad was schreckliches angetan.
Also, wenn das meine gewesen wäre...
a) "Pack mit an, hilf der Frau, ihre Gurke aufzuheben, dann können wir hier weg"
b) "Ja, sehe ich. Und, was soll ich jetzt tun? Das Rad rauslevitieren?"
c) "Kleinen Moment"
Mutter tat aber nichts dergleichen, sondern pflichtete ihrer Tochter bei- das sei völlig unmöglich, den Fahrradständer so zuzuparken!
Ich sammelte meine letztes Gemüse ein, sagte "Gott segne Sie!" und hob mein Rad wieder auf.

So trainiert man: wie rege ich mich auf. Die Resilienz, mit "shit happens" umzugehen, entwickelt man so nicht.

Jeder hat immer guten Grund, auch den banalsten Kram nicht zu können und das muss verstanden werden. besomders fällt mir das beim essen und in der Schule auf:

Essen: etwas nicht zu mögen, war früher akzeptiert (Opa aß keine Tomaten, die mochte er nicht), aber keiner kam auf die Idee, entweder die tieferen Gründe für Opas Tomatenabneigung zu suchen oder aber die Tomate ganz zu verbannen. Er aß einfach keine Tomaten. Oma kochte nicht grad Tomatenauflauf, aber wenn da mal eine Tomate auf dem Buffet lag, bekam er keine Ekelanfälle, sondern ignorierte sie. Unsere Nachbarin sieht eine Himbeere und beginnt ihre "Himbeeren sind ekelig!"-Sonate, nicht unter 2 Minuten. Opa hat Tomaten übrigens nie als eklig bezeichnet und sie damit anderen vermadet.

Ihr Sohn ist selbstverständlich ein ganz besonderes Kind. Wie besonders er ist, erkennt man daran, wie sensibel er ist. So sensibel, dass er ganz vieles nicht ißt. Das ist nämlich kein Zeichen von völlig verbockter Erziehung, sondern von allergrößter Empfindsamkeit. Die muß gefördert werden!
Der Junge ist auch in der Schule ganz besonders und seine Lehrer sind unfähig, damit umzugehen. Wenn er nun mal einen ausgeprägtem Bewegungsdrang hat, der in der Mathe-Stunde ausgelebt werden muß, dann muß er halt rumlaufen dürfen. Er soll seine Bedürfnisse ja ausleben!
Und wenn er 19 ist und das Bedüfnis nach einem Burger hat, aber grad sein Gld zu Hause gelassen hat... dann darf er im "Gasthof zum Goldenen M" wahrscheinlich einfach so was bestellen. Sebstverständlich eine Sonderanfertigung, da er ja Ketchup nicht mag usw.

Wir haben grad Krach mit Großen Tiger, der den vorpubertären Aufstand probt. da ist Schule nur ein Schlachtfeld. Heute morgen kam es zum Knall weil er sich weigerte, die NullKörperspannungs-Haltung auf dem Sofa aufzugeben und den Tisch mitzudecken.
Dem Krach kann man dauerhaft nicht ausweichen, auch wenn das das Kernziel vieler Eltern zu sein scheint- man tut alles, um der Konfrontation auszuweichen weil eine gute Eltern ja konflikfrei erziehen. Das führt dann dazu, dass vermieden wird, was Ärger geben könnte. Ich bin doch hier nicht beim Slalom! Und so hieß es heute morgen "Wer Ärger will, kann ihn haben".

Wieso ist das wichtig in diesem Zusammenhang?
Weil die Fähigkeit, seinen Standpunkt zu vertreten und auch mit Widerstand dagegen zurechtzukommen, der Schlüssel dazu ist, Widerstand zu überwinden und Lösungsstrategien zu entwickeln.
Und weil es ein Unding ist, wenn man alles vor den Popo gekramt kriegt, was aber "die Jugend von heute" zu tun scheint.
Dinge, die bei uns zu Schulzeiten zu einem elterlich-lehrerlich gemeinschaftlichen "Sag mal, hast du sie noch alle?!" geführt haben, sind heute Grund für pädagogische Gespräche, bei denen kleinschrittige Pläne entwickelt werden, wie das Kind denn seine Hausaufgaben machen könnte. Wenn das nicht klappt, bekommt Kind eben erst Förderung und dann irgendwann einen Schulbegleiter. Das ist ein Erwachsener, der danebensitzt und sagt "Lasse-Ole, der Lehrer hat gesagt, dass ihr jetzt schreiben sollt. Du mußt deinen Stift nehmen. Dazu mußt du deine Federmappe aufmachen".
Das kann im Einzelfall sicher sinnvoll sein, aber Rumträumen wurde früher nicht als Fall für die Fachleute betrachtet. Heute denken wir, dass wir dafür Hilfe brauchen. Und dann wundern wir uns, wenn "wie schnüre ich meine Schuhe" ein Fall für's Fernsehen wird.

ich fürchte, ich werde alt....

veilchenpastille am 07.Dez 14  |  Permalink
Meine volle Zustimmung
... und ich werde auch alt ...

Bei uns ihm Haus wohnt eine entzückende ältere Dame. Sie ist alleine, ihr Mann ist vor über 20 Jahren gestorben, ihre Tochter hat selbst keine Kinder und lebt über 100 km entfernt. Sie wird im nächsten Jahr 89 Jahre alt und hat mit den altersüblichen körperlichen und geistigen Einschränkungen zu kämpfen. An manchen Tagen ist es schlimmer, an anderen besser. Und trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen. Sie geht raus, auch wenn das Knie weh tut. Sie ist interessiert und pflegt soziale Kontakte, auch wenn das Gedächtnis manchmal nicht mehr wirklich mitmacht und man ihr dann erklären muss, wer hier im Haus in welcher Wohnung wohnt und welche Kinder zu welchem Haushalt gehören. Sie sitzt mit uns Jungvolk auf der Treppe vor dem Haus und ist offen für das Leben um sie herum. Sie sagt ihre Meinung, aber nie verletzend. Sie versucht, mit jedem auszukommen, aber nicht grenzenlos. Vor kurzem habe ich ihr gesagt, dass ich sie für ein Vorbild für jüngere Menschen halte. Ihr war das fast peinlich, aber ich hoffe, sie hat sich trotzdem über das Kompliment gefreut.

postingmytruth am 07.Dez 14  |  Permalink
Sehr interessante Meinungen beiderseits!
Allerdings könnte man mich wohl auch als zu gut behandelt oder verzogen bezeichnen.
Allerdings bin ich aber wirklich eine besondere, selnsible Art von Mensch! Naja.. wer weiß.
Vor Alltagsproblemen steh ich auch manchmal ratlos, irgendwie kurz "seelenlos" gegenüber, bemerke das dann aber und höre auf wie ein Zombie zu starren und einfach die nächsten logischen Schritte einzuleiten.
Leben wird auch nicht einfacher wenn man verzogen ist!
LG von einem jüngeren Gemüse

PS: "Gott segne Sie!" - was für eine umwerfende Reaktion Ihrerseits! Über diese kunstvolle Antwort musste ich wirklich lachen!
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